DEEN
GAHR - Geschweißte Metallkunst

Pole der Inspiration

Ein Begleittext zum Metallbild von Stefan Gahr

Das Leben ist in jeder Beziehung unendlich.
Eine Ansicht die sich mir immer wieder bestätigt. Der grobe Entwurf meines Wandbildes "Pole der Inspiration" ist aus dieser Philosophie der Unendlichkeit entstanden.
Eine vertikale Schleife erstreckt sich über das gesamte Bild. Die Elemente dieser Schleife zirkulieren um zwei Pole. Oben der himmlische Pol mit einem gekrönten Engel, unten der animalische Pol mit einem gehörnten Künstler.

Alles ist mit allem verbunden.
Kein soziales, philosophisches oder künstlerisches Problem lässt sich jemals in seiner ganzen Tiefe erfassen. Die Beziehungen sind so weit reichend, dass man bei jeder Kleinigkeit, bei jedem kleinsten Bestandteil, immer alles einschließen muss. In diesem Sinne ist auch in meinem Wandbild alles mit allem verbunden. Eine Linie führt zur anderen und der Ausgang ist völlig ungewiss.

Alles Leben ist Veränderung.
In meinem Bild entstehen immer wieder mannigfaltige Gebilde. Manche sind schon fast realistisch ausgearbeitet, wie mein eigenes Gesicht und meine Hand links unten. Andere wiederum sind durch den Fluss des Lebens oder weniger pathetisch ausgedrückt, den Fluss meiner Interessen, schon wieder so verfremdet worden, dass man sie kaum erkennt. Wie zum Beispiel die vier engelhaften Figuren am linken, mittleren Bildrand.
Alle dargestellten Elemente haben mich eine Zeit lang gefesselt, sie haben sich aufgebaut, sich gebildet, Geschichten sind um sie entstanden und wurden auch wieder hinweggeschwemmt von neuen Geschichten. Auch meine Absichten und Stimmungen haben sich verändert und somit auch die dargestellten Elemente.
"Dem Fluss des Lebens zusehen und sich mittreiben lassen", sehe ich als Leitmotiv während der dreimonatigen Arbeit.

Das Ende wird nur durch unsere Wahrnehmung begrenzt.
Eine meiner Absichten während der Beschäftigung mit dem Wandbild war es, mit dem Linienzeichnen nicht aufzuhören bis die gesamte Fläche mit Linien bedeckt ist. Vielleicht mit ein paar kleinen "lichteren" Stellen.
Nur wären dann fast alle Details wieder im Liniengewirr verschwunden, was nicht wirklich sinnvoll gewesen wäre. Um trotzdem zu einem Ende zu gelangen, half mir der hochglanzpolierte Edelstahl. Der Bildhintergrund. Die Spiegelungen auf ihm verändern sich in jedem Moment des Betrachtens. Immer neue Beziehungen zu den Linien lassen sich herstellen. Das Ende ist nur durch unsere Wahrnehmung begrenzt.

Viele Ideen konnten nicht verwirklicht werden, weil es die Vernetzung nicht zuließ. Immer wieder habe ich versucht die Infinity-Schleife in seinem Kreuzungspunkt zu verbinden. Immer wieder wurden die Linien abgelenkt von der ungeheuren Anziehungskraft der Strömungen. Zum Glück ließ ich mich meistens treiben. In den schönsten Momenten war ich stiller Beobachter. Wenn meine Hand mit dem Fräser über die schöne, schwarz glänzende Fläche gleitet und Formen hervorbringt die noch nie ein Mensch gezeichnet hat, dann war ich oft stolz. Der kreative Künstler! Alleine mit seinem Werk! Erlöser der Welt! Solche Gedanken kommen Künstlern immer wieder in den Kopf, wenn Sie kreativ wirken. Es sind schöne Gedanken! Bei mir sind sie meist verbunden mit dem Traum einer friedlichen, offenen Welt! Ich selbst will gar keinen Applaus. Mein Werk ist mir Lohn genug. Ein Narr der diesen Gedanken glaubt!

Sie sind genauso flüchtig wie die depressiven Gedanken die sich mir zwangsweise aufdrängen, wenn ich mich in der Arbeit gehen lassen muss, um anmutige Linien zeichnen zu können. Den Anfang machen noch nicht ganz so dramatische Gedanken, die mir einreden, dass das Ganze keinen Sinn macht, nichts einen Sinn hat. Und immer wieder auch das völlig konträre Gefühl, dass es dieses Mal nicht klappen wird. Dieses Mal wird es mir nicht gelingen!

Ich weiß längst, dass auch diese Gedanken nichts bedeuten. Ein Kommen und Gehen ohne unmittelbaren Sinn, aber leider trotzdem notwendig. Durch die andauernde Destruktion meines an sich friedlichen Wesens und die rauschhaften Glücks- und Allmacht-Phantasien bleibt mein Arbeiten im Fluss. In Bewegung. Ist mal aufgewühlt, mal träge fließend, mal grau, mal flirrend. Schön, hässlich, öde, erleuchtend. Mir klar geworden zu sein, dass all diese Gefühle und Gedanken nicht bremsendes, lästiges Beiwerk sind, sondern der ungeordnete Grund aus dem kreative Einsicht hervorgeht, halte ich für eines der revolutionärsten Erkenntnisse über mich selbst.

Mein schöpferisches, weises "Ich" beschäftigt sich mit dem Kunstwerk und lässt mein Gehirn alleine. Und das macht, was jedes Gehirn am liebsten tut. Es stürzt sich hinab in die Tiefen der Polarität. Gut-Böse. Schön-Hässlich. Das ganze Leben wird zu einem stumpfen, hierarchisch aufgebauten System in dem Rechthaberei, Hochmut, Machtspiele und Gewalt ihr Unwesen treiben. Ich selbst sehe mich in dieser kalten, beengten Welt, wild um mich schlagend und aggressiv verteidigend.

Diese Hölle habe ich in der unteren Bildhälfte dargestellt. Mich selbst in der Mitte. Man kann zwei Hörner auf meinem Kopf erkennen. Ich halte den Faden der Kreativität in meiner Hand. Ich als Schöpfer (meines) Universums. Am rechten Rand steht das Gegenteil davon: "Am Wegrand stehend. Werden und Vergehen". Auf mich selbst bezogen. Das Leben vergeht, ohne mich teilhaben zu lassen. Sogar ohne eine Bedeutung zu haben. Man kann den Gedanken der Trennung deutlich erkennen. Zum Glück ist er eine physikalische Unmöglichkeit, wenn er uns allerdings trotzdem viel zu oft überfällt.

Ohne Unten-kein-Oben ist der nächste philosophische Ansatz der im Bild Platz gefunden hat.
So treiben wir langsam vom eitlen Faden der Kreativität ausgehend, gegen den Uhrzeigersinn durch die animalische Welt nach oben. Es ist sicher nur durch meine katholisches, westlich geprägtes Leben bedingt, dass ich das animalische unten dargestellt habe.

Auf jeden Fall, irgendetwas treibt mich nach oben, um bereits auf halbem Weg zeichnerisch zu explodieren. Auf der linken, oberen Seite geht es direkt in den Himmel. Bevor wir oben angekommen sind, heißt es noch: "In Erwartung der Auferstehung". Und dann sehen wir Ihn auch schon, den gekrönten Engel. Erhaben. Unberührt von allem. Den Glanz des über ihn wehenden Lebensweges genießend.
Interessanter Weise war diese Figur aus den ersten Strichen entstanden. Arroganz dürfen wir ihm nicht zuschreiben. Er war ja schon da, als alles um ihn herum entstanden ist und hat sich in Folge nur nicht verändert. Sein Gewand wurde geschmückt. Der Flügel soweit ausgebaut bis er völlig ins Bild verwoben war. Aber er selbst war immer so und hat sich trotz meiner dreimonatigen Annäherung nicht verändern lassen. Daher ist er auch so schematisch geblieben.
Ich sage immer "Er", aber eigentlich ist "Er" nicht von mir getrennt. Der Engel symbolisiert einfach nur den himmlischen Pol. Und "Ich" bin bei diesem Theater das man Leben oder Kunst oder wie auch immer nennen mag, nichts als Inspiration.

Bis vor kurzem habe ich mich selbst immer als polar beschrieben. Ich hätte zu jedem Thema zwei Meinungen.
Bis mir aufgefallen ist, dass ich zu immer weniger überhaupt eine Meinung habe. Dass alles viel zu kompliziert ist, um es verstehen zu können. Meine Befürchtungen ich hätte vielleicht ein Burn-Out oder ich wäre bald in unserer Welt der klaren Ansichten völlig verloren, waren zum Glück nicht von langer Dauer.
Eine feste Meinung von etwas zu haben, in einer Welt in der alles Unendlich ist, bedeutet einfach den Wald nicht zu sehen, weil man zu nahe an einem Baumstamm steht.

Die Idee, dass man gar nichts verstehen muss, weil man es gar nicht kann, eröffnet uns eine neue Freiheit in der Deutung des Bildes:
Die losen Bildelemente, außerhalb der Schleife, sind ebenfalls ein Teil des ewigen Kreislaufs der Inspiration, zu dem das Leben geworden ist. Ein Teil dessen, das sich ewig wandelt.
Zum Beispiel die kristallinen, knisternden Objekte, die ich am rechten Bildrand erkennen will. Das sind für mich Seelen-Elemente die aus dem Kreislauf des Lebens ausgestiegen sind. Sie sinken in die Tiefe. Versprühen ihre Energie in schöner Anmut und all ihre Bestandteile nehmen einen individuellen Weg. Und sind somit weiterhin ein Teil dieser herrlichen Phänomene, die mir beim Gravieren so viel Freude gemacht haben.
Es wäre also gegen meine ausdrückliche Absicht, das Bild als fertig und unbeweglich zu betrachten. Nein! Das wäre zu einfach! Auch wenn man am Anfang nur die Momentaufnahme sieht, ist es beweglich. Sieht immer anders aus. Es zirkuliert um die beiden Pole und treibt unsere Inspiration an.
Und durch das Mitwirken unendlich vieler Faktoren entsteht plötzlich Schönheit.


(Stefan Gahr, 2016)

Detail des Wandbilds 'Pole'(Link zum Metallbild: "Pole der Inspiration")